Matthias Rataiczyk

Die Abenteuer der wechselnden Perspektiven

„Die Straßen waren schmale Gassen, im Basarviertel holzüberdeckt und dort, wo sie offen waren, blickte der Himmel nur durch einen engen Spalt zwischen den hohen Firsten der weißgetünchten Häuser. Aus Korallenkalkstein gebaut, waren sie vier bis fünf Stockwerk hoch, durch Balken versteift und mit Bogenfenstern versehen, die durch graue, vom Boden bis zum Dach laufende Holztäfelungen verbunden waren.“ So schildert T. E. Lawrence seinen ersten Eindruck von der Hafenstadt Djidda am Roten Meer. Bald wechselt die Perspektive, er reitet durch die nächtliche Einöde, und sein arabischer Begleiter zerbricht sich den Kopf darüber, warum er seinen prächtigen Gartenpalast aufgegeben hat, um der schwache Führer verzweifelter Abenteurer in der Wüste zu werden.

Der schnelle Wechsel der Blicke, Orte und Schauplätze, der für die Moderne symptomatisch geworden ist, zwingt dazu, auch den geistigen Standort ständig zu überprüfen und in Frage zu stellen. In auffälligem Gegensatz dazu gehört die Wahl perspektivischer Mittel in der heutigen bildenden Kunst zu den Ausnahmeerscheinungen.

Der hallesche Maler Matthias Rataiczyk hat mit seinen Landschaften und Architekturbildern das Wagnis unternommen, wechselnde Perspektiven mit den traditionellen Mitteln der Zeichnung, des Tafelbildes und der Collage zu gestalten. Seine tektonisch gestaffelten Flächen und Formen schaffen Tiefenräume, Durchbrüche, Abgründe, Wälle und Mauern. Die Vorder- und Hintergründe sind nie deutlich voneinander geschieden, sie durchdringen sich, wechseln einander ab und überlagern sich. Zwischen ihnen hin- und herpendelnd kann sich der Blick des Betrachters verirren. Manchmal ist die Perspektive nur vorgetäuscht und verharrt stattdessen – wie in einem Labyrinth oder Spiegelkabinett – klaustrophobische Ängste schürend, immer auf der gleichen Ebene. Das simultane Nebeneinander verschiedener Perspektiven ist Endpunkt und zugleich Neubeginn einer Entwicklung, die mit den ersten zentralperspektivischen Bildern von Paolo Uccello und Masaccio in der frühen Renaissance in Italien begann.

„Wenn ein Bild mißrät, wirft man´s ins Feuer und fängt ein neues an“, schrieb fast fünfhundert Jahre später der manische Bildforscher Paul Cézanne. Nur ein „Mann ohne Haut“ wie er, der überwach den geistigen Botschaften seiner Zeit lauschte, konnte auf die zentralperspektivische Malerei verzichten, die die Kunst des Abendlandes tiefgreifend geprägt hat. Mit einem Erneuerer wie Piero della Francesca und der Renaissance verbindet ihn der radikale, alte Sehgewohnheiten in Frage stellende Blick. War Piero sowohl in der Theorie als auch in der malerischen Praxis der eigentliche Wiederentdecker und Neuentdecker der Perspektive zur höheren Weihe einer spirituellen Bilderwelt, wurde Cézanne zum Wiederentdecker der Bedeutungsperspektive. Er öffnete die Tore, durch die sich der Blick auf eine Vielzahl neuer, widerstreitende und dennoch im gleichen Bild vereinter perspektivischer Standpunkte weitete. Nach Cézanne verlor die Zentralperspektive als malerisches Ausdrucksmittel beständig an Boden, bis sie in unserem Jahrhundert zu einer bloßen Projektionstechnik degradiert wurde.

Griffen Künstler dennoch auf dieses Instrumentarium zurück, wie Giorgio de Chirico oder M. C. Escher, wählten sie die ironische Distanz, die bewußt falsche Perspektive oder das simultane Nebeneinander verschiedener Perspektiven, um ihrer künstlerischen Absicht zu stärkerer Wirkung zu verhelfen. Erst im letzten Jahrzehnt haben sich einige, zumeist jüngere Künstler wieder dieser Gestaltungsmittel erinnert und sie bewußt eingesetzt.

Die Räume auf den Bildern von Matthias Rataiczyk sind menschenleer, sie leben nicht von der Erwartung, daß in jedem Augenblick, von Geisterhand bewegt, die dazugehörige „personnage“ auftauchen könnte. Seinen sich abgründig verzweigenden Zimmerfluchten fehlen nicht die Dramatis personae eines vom Leben gespielten Stückes. Vor dem Hintergrund dieser fragmentarischen Architekturen wären weder antike Heroen noch die Protagonisten eines bürgerlichen Ehedramas zu Hause. Doch andererseits sind seine Räume keineswegs hermetisch verschlossen, von einer glatten, nach innen verspiegelten Oberfläche umgeben. Fast unmerklich könnten die Akteure in den Bildraum eintreten – hockende, kauernde, sinnende Gestalten, die ihr Gesicht vom Betrachter abkehren. Meditierende auf dem gemaserten Boden eines Kirchschiffs, sich Erinnernde vor dem Hintergrund einer geborstenen Mauer. Gerade durch die formale Abwesenheit der Figur gelingt es diesen Bildern, Wirklichkeitserfahrungen zu ordnen und zu verdichten und damit ihre existentielle Bedeutung aufzudecken.

Ursprünglich haben die Ruinen seiner Heimatstadt – Zeugen einer fortdauernden geistigen und materiellen Verletzung und Verödung – den Blick des Malers auf zerbröselndes Mauerwerk und Treppen, die im Leeren enden, gerichtet. Den Ruinen der halleschen Papiermühle am Ufer der Saale, ihren Toren, Mauern und ihrem Dämmerlicht ist ein ganzer Collagenzyklus gewidmet. Doch die Kunst, sofern sie sich nicht in der Mimesis erschöpft, läßt sich ebensowenig vollständig ausdeuten, wie in Eindrücke und Epiphanien auflösen. So sind die pittoresken halleschen Abrißviertel nur ein Auslöser und Anreger unter anderen, uns verborgenen gewesen.

Neuerdings ist nicht nur der Blick sondern auch der Maler gewandert. Nach Italien, Portugal, in die südliche Türkei, die arabischen Länder und nach Mexiko. Seine Häuserwände, Mauern, Straßen und Brückenbögen sind lichter, klarer und prägnanter geworden. Im Zyklus der „Sonnengesänge“ verformt sich die Tektonik der Bilder unter dem Druck des gleißenden Sonnenlichts. An die Stelle heimatlicher Ruinen sind die Artefakte untergegangener Kulturen getreten. Nicht zuletzt am Wandel seiner Bilder zeigt sich, wie wichtig es ist, den Kreis seiner angestammten Umgebung von Zeit zu Zeit zu verlassen. Nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Dinge. In anderer Umgebung gewinnen sie ein anderes Aussehen und kommen verändert zu uns zurück.

In der jüngsten Vergangenheit haben die Entdeckung virtueller Realitäten, die Auseinandersetzung mit einem sich radikal verändernden Körpergefühl und eine expandierende Raumwahrnehmung eine neue Sensibilität für wechselnde räumliche Perspektiven geweckt. Dem weit Entfernten viel näher als unseren Nachbarn, lösen wir uns in zunehmendem Maße von uns selbst. Der Verlust unseres Köpergefühls läßt uns – mit den Instrumenten des Cyberspace ausgestattet – in einem autistischen Zustand zurück, in dem das gleichzeitige Verhandensein aller Perspektiven zu ihrer gegenseitigen Auslöschung führt. Die so geschaffene virtuelle Umwelt erzeugt ein Lebensgefühl des „rasenden Stillstandes“, wie es Paul Virilio beschrieben hat.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der kreative Umgang mit der Perspektive ebenso wie die Gestaltung von Licht und Schatten, das „Chiaroscuro“ der Renaissance, in der heutigen bildenden Kunst ein besonderes Gewicht. Die Ästhetik der Bilder von Matthias Rataiczyk wird zu einem Mittel, das Bewußtsein des Betrachters für seine Raumwahrnehmung und seinen geistigen Standort zu schärfen und in Frage zu stellen. Auf seinen Bildern und Collagen eröffnet uns der Maler neue Räume, die über den Wechsel der Blicke geistige Perspektiven und Perspektivverluste aufscheinen lassen. Horizonte, Mauern und Abgründe, die Sonnenfluten über den Artefakten reflektieren die schnell wechselnden Perspektiven unserer Gegenwart.