30. August 2017
Vom Wunsch nach ewiger Gegenwart
Gedanken zu einer Werkgruppe von Matthias Rataiczyk
Zu den Arbeiten der Serie MEMENTO
Todesdarstellungen haben nicht nur in der Literatur und der Philosophie eine lange Tradition. Die bildende Kunst bemächtigte sich des Themas auf ganz unterschiedlichen Wegen. Oft war es die Sprache der Symbolik, die den Todesgedanken als Ausdruck ihrer Zeit verstand. Sie beschwor den Tod als Mahnung an die Lebenden, ihr irdi-sches Tun zu überdenken und ihre kurze Lebensspanne im Einklang mit moralischen und religiösen Normen besser zu nutzen. Zugleich entsprang der fortgesetzte Versuch, dem Tod mit Pinsel, Feder und Graphit, mit Ton- und Holzplastiken beizukommen, dem Wunsch, einer menschlichen Ur-Angst Herr zu werden, indem man ihn sich vergegenwärtigte, ihm ein Gesicht und eine körperliche Gestalt verlieh und zu einem festen Bestandteil von Kultur, Zivilisation und Kunst werden ließ. So zieht sich die Beschäftigung mit dem unausweichlichen Tod, der weder mit Religion noch mit wissenschaftlichem Fortschritt oder philosophischer Reflex-ion zu überwinden ist, wie ein roter Faden durch die Geschichte der bildenden Kunst.
Im späten Mittelalter waren es vor allem die Totentänze, die der adeligen ebenso wie der städtischen und bäuerlichen Gesellschaft mit einem wilden, bunten, sarkastischen und todtraurigen Reigen den Spiegel des großen Gleichmachers vorhielten. Der Tod machte vor niemandem Halt. In den folgenden Jahrhunderten wurde der Tod in weltlichem, häufig modischem Gewand zum Protagonisten von Hunderten von beißend komischen, spöttischen und gesellschaftliche Zustände demaskierenden Zeichnungen und Cartoons. Von Barthel Behaim über Hogarth und Cruikshank bis zu Max Klinger. Die satirische Zeichenfeder als Werkzeug aufge-klärter Moralisten schuf Bilder des Todes als Korrektiv verlogener, erstarrter, der Veränderung bedürftiger gesell-schaftlicher Zustände.
Die apokalyptischen Erfahrungen der Moderne mit dem massenhaften Sterben und der industriellen Beseitigung der Toten haben die Künstler in eine tiefe Krise und Rat-losigkeit darüber gestürzt, dass Bilder des Todes, kaum dass sie auf der Leinwand oder der Druckplatte Gestalt ange-nommen hatten, von der grauenhaften Realität überholt und in den Schatten der Tradition gestellt wurden. Die überkommene christliche Ikonographie hatte ihre Kraft verloren und wurde nur noch von einem immer kleiner werdenden Kreis von Betrachtern verstanden.
In der postmodernen Medienwelt stürmt der fotografierte und gefilmte Tod in „Echtzeit“ täglich gleich dutzendfach auf den zum Voyeurismus verurteilten Betrachter ein, während der reale, spür- und fühlbare Tod immer weiter aus dem Gesichtskreis seiner Lebenswelt verdrängt wird. In die Anonymität riesiger Krankenhauskomplexe an Stadt-rändern und auf grünen Hügeln verbannt, fristet er sein Dasein als gesellschaftlicher Paria, dem möglichst kein Ge-sicht und keine Gestalt mehr zugestanden wird. Parallel dazu entwickelt sich die Sepulkralkultur zu einer Disziplin von Spezialisten, die sich professionell mit dem Tod beschäftigen und an die man die Begegnung mit ihm gern delegiert.
Der Künstler Matthias Rataiczyk nähert sich den historischen und heutigen Erscheinungsformen und Bewäl-tigungsstrategien des Todes nicht mit wissenschaftlichen Methoden, aber er lässt sich davon inspirieren, auf welche Weise akademische Fächer wie Archäologie, Ethnologie und Anthropologie den Tod zu ihrem Forschungsgegen-stand machen. Als Spurensucher und Spurenfinder be-obachtet, skizziert, fotografiert und dokumentiert er das unstillbare Verlangen der Menschen unterschiedlichster Kulturen nach dauerhafter körperlicher Präsenz. Doch anders als die Wissenschaftler, die das Streben nach Unvergänglichkeit und die Gesichter des Todes in den Totenreichen früherer Kulturen vermessen, ordnen, kartieren und konservieren, transformiert er die Bilder des Todes in Objekte der Kunst.
Einer der Ausgangspunkte der künstlerischen Arbeit von Matthias Rataiczyk in den 1980er Jahren war das Skanda-lon, dass in seiner Heimatstadt Halle ganze, über Jahrhun-derte gewachsene Stadtteile dem Verfall preisgegeben und abgerissen wurden. Die Oberfläche und Struktur von Gebäuden, die Architektur als Gehäuse des Menschen, das einem ständigen Wandel unterworfen ist, wurde zu einem seiner zentralen Themen. Indem er die Narben, die die Zerstörung hinterließ, auf seine menschenleeren Architek-turbilder und -collagen übertrug, versuchte er die eben noch vorhanden gewesene Präsenz menschlichen Lebens aufzuspüren und festzuhalten, bevor sie für immer verschwunden war. Vergleichbar mit den Architekturphan-tasien eines Giambattista Piranesi wurden sie zum Mene-tekel einer unaufhaltsam zerfallenden Kultur.
Mit tektonisch gestaffelten Flächen und raffiniert ineinander geschachtelten Volumina schuf er Wälle und Mauern, Durchbrüche und Abgründe, Räume, die sich in atembe-raubender Tiefe verzweigen. Die Vorder- und Hintergründe sind nie deutlich voneinander geschieden, sie durchdringen sich, wechseln einander ab und überlagern sich. Seine Zeichenkunst, die sowohl eine Kunst des Zeichnens als auch eine der Zeichen ist, entfaltet sich auf Leinwänden und Holztafeln, auf handgeschöpften Papieren und Papyri.
In seine Ölbilder collagierte er eingefärbtes Vlies, das eine haptische Qualität der Oberflächenstruktur bewirkt.
Nachdem die Ruinen der Heimatstadt seinen Blick auf ber-stendes Mauerwerk und Treppen, die im Leeren enden, geschärft und der Riss in der Berlin einschließenden Mauer den Weg nach Westen und Süden freigegeben hatte, reiste Matthias Rataiczyk weiter nach Italien und Portugal, in die südliche Türkei und die arabischen Länder. Und schließlich weiter nach Mexiko, Thailand und Peru.
Seine Mumienportraits aus den Grüften von Palermo sind keine Totenbildnisse, die Entsetzen, Schauder und spektakuläre Horroreffekte hervorrufen wollen. Mit kühl sezierendem Blick beobachtet und zeichnet er Mönche, Priester und wohlbetuchte Bürger, die während dreier Jahrhunderte in den Kapuzinergrüften ihr letzte Ruhe fanden. In ihrer Todesstille und Todesstarre harren sie mit leeren Augenhöhlen und offenen, verzerrten Mündern aus, als seien sie für die Ewigkeit bewahrt. In skurrilen, manchmal fast humorvollen, auf unheimliche Weise lebendig wirkenden Szenerien spiegeln einzelne Tote, Paare und ganze Gruppen ihr irdisches Leben und sind zugleich zu einem immerwährenden „Memento mori“ erstarrt.
In den Paraphrasen peruanischer Mumienportraits lässt Matthias Rataiczyk seine von Hell-Dunkel-Kontrasten geprägten Architekturdurchblicke mit der menschlichen Figur verschmelzen. In hockender, sitzender, kauernder Position scheinen die Toten angstvoll auf ihre Erlösung oder ein weiteres, anderes Leben zu warten. Vor ihrem unsichtbaren, aber dennoch immer gegenwärtigen Hintergrund aus erfülltem und unerfülltem, lust- und leidvollem Leben verwandeln sich die peruanischen fields of skulls unter dem Blick des Zeichners und Malers zu Allegorien der Ver-gänglichkeit und des Strebens nach Dauer. Mit ihren sorgfältig arrangierten Totenschädeln, Grabbeigaben und rituellen Gegenständen, von deren Funktion wir nichts wissen, erinnern sie einerseits an die vertrauten Vanitasbilder der Renaissance und des Barock, andererseits eröffnen sie den Blick auf eine fremde, vergangene, viele ungelöste Rätsel bergende Kultur.
Auch die Engelsgesänge wollen uns entführen und verführen in vergangene, untergegangene Welten und deren Geschichte einzutauchen. Jugendschöne Frauen dienen als symbolkräftige Bilder ihrer in einer anderen Welt weiterexistierenden Seelen. Vom Fährmann Charon werden sie aus antiken Ruinenstätten hinausgeleitet und über jenen Fluss Lethe gerudert, der die Erinnerung auslöscht und das irdi-sche Leben unwiederbringlich von der Unterwelt trennt.
Eine seiner vielen Studienreisen führte Matthias Rataiczyk nach Vác in Ungarn. Sein Ziel war die Krypta der Dominikanerkirche, in der 262 ehemalige Bewohner dieses Ortes bestattet sind. Die Toten liegen in gut erhaltenen Särgen, in denen sie ein besonders günstiges Mikroklima mumifiziert hat. Männer, Frauen und Kinder, Priester, Offiziere und Beamte tragen ihre einstigen Kleider, Trachten und Uniformen, als seien sie erst gestern zu Grabe getragen worden. Aus diesen kaum verwitterten Bildern des Todes, die von Sarginschriften in deutscher, lateinischer und ungarischer Sprache begleitet und erklärt werden, hat Matthias Rataiczyk ein eindrucksvolles „Quidproquo“, eine Lebensspur im zufällig konservierten Antlitz geschaffen, das uns den Tod als etwas immer Gegenwärtiges, nicht zu Verdrängendes erleben lässt.
Auf allen seinen Reisen zu zeitlich und räumlich näheren und weiter entfernten „Totenreichen“ ist Matthias Rataiczyk immer wieder auf das gleiche Phänomen gestoßen – das unstillbare Verlangen der Menschen nach dauernder körperlicher Präsenz. Verwandelt in Zeichnun-gen und Bilder von eigenem künstlerischen Rang sprechen sie in einer vieldeutigen und deshalb nicht schnell zu erschöpfenden Sprache zu uns. Nicht aus den Elementen der Archäologie und Anthropologie, sondern aus dem Alphabet der Kunst ist diese Sprache gewirkt. Wie jede Kunstform von Bedeutung ist sie primär ziel- und zweckfrei. Doch indem wir sie sinnlich wahrnehmen und reflektieren, entfaltet sie ihre Wirkungskraft auf unterschiedliche Weise. Sie lenkt unseren Blick dorthin, wo Ängste gebannt wurden, getragen von der Hoffnung, dass die Erinnerung an die Toten nicht verblassen möge. Dem gleichsam materialisierten Memento mori wurde körperliche Gestalt und Dauer verliehen.
Mit der Wiedergabe und künstlerischen Verwandlung von nahen und fernen „Totenreichen“ dringen die Bilder von Matthias Rataiczyk sowohl räumlich als auch zeitlich in eine Tiefendimension vor, in der die Kunst kein postmo-dernes Allusionsspiel ist, sondern eine existenzielle Bedeutung besitzt.