30. August 2017
Matthias Rataiczyk
Vor der Wand
Schatten fressen Löcher in die Wand. Dort, wo das Licht hinfällt, sind die Flächen ausgeblichen. In den Fensterhöhlen verdichtet sich das Schwarz zu einer kompakten Masse. Die Schatten an der Wand sind Bilder im Bild, die Zweitsicht vorspringender Architekturteile. Sie zeichnen die Erhebungen als scharfe Abbilder in einer anderen Dimension nach, sind Verdoppelungen des Objekts, vom Licht geschaffene Scherenschnitte.
Matthias Rataiczyk ist ein Reisender und genauer Beobachter. Die Arbeiten, die der von diesen Reisen mitbringt oder im Atelier nachzeichnet, sind präzise Erinnerungen des Augeblicks. Als Vorlagen dienen ihm Frottagen und Photographien. Es sind die hohen Stunden des Tages, die er festhält. Er hat eine Vorliebe für die klaren Mittagsstunden. Die Sonne hat im Zenit zu stehen. Dem Diffusen wird keine Möglichkeit eingeräumt. Seine Zeichnungen sind gnadenlos genau, gleichzeitig ist der Ort, das abgebildete Gebäudeteil, undefinierbar. Erkennbar sind bauliche und kulturelle Bezüge, aber immer haben wir nur Ausschnitte der Architektur vor Augen. Es gibt nie einen Rundumblick, der Blick zum Horizont ist verbaut. Der Betrachter steht vor einer Wand, kann haargenau die Details erkennen, jeden Riss, jede Verwerfung. Aber es gibt keinen Ausweg in die Landschaft. Die Durchblicke sind versperrt. Die Zeichnung sagt, wir stehen vor einem ver-schlossenen Gebäude dessen Ausmaße und innere Struktur nicht erschließbar sind. Die Ein-gänge sind wenig vertrauenserweckend. Es ist das Gefühl, das letztendlich jeder Reisende nach Hause bringt. Wir sind den Dingen sehr nahe gekommen, das Wirkliche bleibt unergründlich. Die Details sind es, die sich am schärfsten einbrennen, wenn man vor dem Unverständlichen steht. Rataicyks Graphik ist präzise, er klammert sich förmlich an das optisch Erfassbare, zeich-net mit Akribie die durch das grelle Licht definierte architektonische Struktur. Über die Beschrei-bung des greifbar Nahen wird versucht, das nicht Fassbare zu fassen. Damit zeigt er veränderte Wahrnehmungsgewohnheiten auf: Reisen sind immer mehr abrupte Ausbrüche aus dem Alltag, die Entfernungen werden nicht gemächlich erfahren, sondern durch extreme Beschleunigung überbrückt. Das gezeichnete Panorama verschwindet aus dem Reisebericht. Der universelle Überblick wird als romantische Vision verworfen. Wohlstand und Geschwindigkeit bedingen ein-ander und machen die Wahrnehmung fragmentarisch. Man kommt mit Schnappschüssen nach Hause.
Rataiczyk sammelt sein Bildmaterial. Vorgefundenes wird im Nahbereich dokumentiert. Er hält sich zurück. Die Bilder transportieren keine vom Autor vorgefasste Deutung. Nachgezeichnet sind: Fensteröffnungen, Türen, Torbogen, Reliefs, unerschließbare Gravuren und Symbole. Auf den Maueren ist ihre Baugeschichte in all ihren Einfügungen, Reparaturen und Ausbesserungen nachvollziehbar. Vieles ist ruinös. Die Präzision, mit der Matthias Rataiczyk seine Bilderfolgen erstellt, erinnert an kriminalistische oder altertumswissenschaftliche Spurensicherung. Das Beindruckendste aber bleibt das Licht. Der Schatten macht den Raum. Sehr oft ergeben die schwarzen Verästelungen eine unerklärliche Grafik. Dieses Nachzeichnen auch minimalster Feinheiten ergibt ein schwer zu enträtselndes Geflecht. Bei aller Genauigkeit, Rataiczyk bringt sein eigenes Muster ein.
Die brüchigen Behausungen scheinen keinen Schutz hinter ihren Mauern zu gewähren. Der Betrachter ist allein mit dem Bild. Überall ist High Noon. Niemand zeigt sich, nicht einmal der Schatten eines Mitmenschen ist sichtbar. Die Orte sehen verlassen aus. Keine Menschenseele, geschweige denn irgendein Getier stört die Ruhe und Stille. Und es sieht so aus, als würde das auf Dauer auch so bleiben.