10. Februar 2022
Fremde bekannte Welten
Zur Eröffnung der Ausstellung mit Gemälden und Grafiken Matthias Rataiczyks in der Rathaus-Galerie Grimma am 17. Juli 2021
Sehr geehrte Damen und Herren!
Auch ich darf Sie in der Rathausgalerie herzlich begrüßen. Es ist höchst erfreulich, dass nach dem Corona-Einbruch wieder eine Ausstellung in diesen schönen Räumen stattfinden kann. Viele von Ihnen erinnern sich sicher noch an die Ausstellung mit Gobelins, Gemälden und Zeichnungen von Rosemarie Rataiczyk vor etwa zwei Jahren, die einen kleinen Querschnitt durch das reiche, von einer ganz eigenen Poesie erfüllte Lebenswerk dieser halleschen Künstlerin bot. Heute nun eröffnet Ihnen Matthias Rataiczyk Zugänge zu fremden bekannten Welten. Seine Arbeiten sind nicht weniger poetisch als die seiner Mutter, aber auf eine ganz andere Weise. „Fremde bekannte Welten“ – der Titel benennt ein zweifaches Paradox. Zunächst: „Fremd“ heißt doch soviel wie unvertraut, und was einem nicht vertraut ist, kann nicht zugleich bekannt sein und umgekehrt. Die Orte, von denen die hier gezeigten Gemälde und Zeichnungen inspiriert sind, sind zumindest nicht unsere heimische Umgebung – sie sind geografisch einigermaßen entfernt, liegen in Kleinasien – in der Türkei -, im islamisch geprägten Nordafrika, in Äthiopien, in Peru … Andererseits scheint heutzutage, im Zeitalter des globalen Tourismus und der Bilderüberschwemmung via Fernsehen, Internet und Printmedien jedoch das Ferne, also das Fremde, auch vertraut: Wenn man schon nicht selber dort war, meint man, es doch irgendwo gesehen zu haben, und sei es auf irgendeiner Webseite, im einer Reportage, einem Bildband oder einem Reiseprospekt. Aber ist dem wirklich so? Der Blick auf die Bilder Matthias Rataiczyks belehrt uns eines Besseren. Diese gemalten oder gezeichneten Fassaden, Hausmauern, Dächer und Innenräume, diese Durch- und Einblicke haben eine andere Wirklichkeit als die elektronisch festgehaltenen Reiseimpressionen oder der schlendernde oder eilende touristische Blick. Da sind Schrunden, Risse, Verwerfungen, Ab- und Auflösungen: Spuren einer Geschichte, die nicht nur nach Jahrzehnten zählt – aber wir Betrachter kennen sie nicht. Spuren von Leben, das sich in diesen Architekturlandschaften abgespielt hat und noch abspielt, aber es scheint uns fern und verschlossen wie die Menschen, die bei manchen Einblicken in Innenräume auftauchen und fast wie ein Teil der Architektur wirken – etwa die äthiopischen Mönche in ihren in den Stein gehauenen Behausungen auf einigen der hier gezeigten großformatigen Zeichnungen. Matthias Rataiczyks Bilder tun nicht so, als wüssten sie alles. Das Schauen der Betrachter wird zur Entdeckungsreise, ein bisschen so wie die, die der Künstler selbst unternommen hat. Es gibt so viel zu sehen auf diesen Leinwänden und Papierarbeiten: Strukturen, die fast schon etwas Abstraktes haben können, die vielfältigen Nuancen einer – aufs Ganze gesehen – zurückgenommenen, fast kühlen Farbigkeit, in der reich skalierte Gelb- und Grautöne vorherrschen – ich muss gestehen, dass ich dazu öfters trockene Erden, Lehm oder auch Staub assoziiere. Aber diese Farbwelt verfügt auch über Blautöne, die leuchten können wie ein mittelmeerischer Sonnenhimmel, und präzise gesetzte Rot-Akzente wirken wie Ausrufungszeichen.
Die Spurensuche quer durch die Geschichte ist ein Ur-Motiv Matthias Rataiczyks. Kunst und ihre Geschichte bis zur Moderne und zur Gegenwart umgaben ihn seit seiner Geburt im Jahre 1960 – sein Vater, Werner Rataiczyk, und seine Mutter, Rosemarie Rataiczyk, zählten zu den bekanntesten und produktivsten Künstlern Halles. Dem Elternhaus in der Talstraße gegenüber, jenseits der Saale, liegt der Giebichenstein mit seiner imposanten Burgruine, der Oberburg – in der Unterburg, die die legendäre Kunsthochschule Burg Giebichenstein beherbergt, studierte er später Malerei. In der Konfrontation mit alten Gemäuern und jahrhundertealten Überresten ist Geschichte ja regelrecht greifbar. Diese sozusagen sinnliche Begegnung mit Vergangenem, das ja auch vergangenes Leben ist, faszinierte ihn ziemlich bald. Als Schüler beteiligte er sich per Ferienjob an Grabungen des halleschen Landesmuseums für Vorgeschichte auf der Schalkenburg bei Quenstedt, einem von der Jungsteinzeit bis in die frühe Eisenzeit mehrfach übersiedelten Areal. Man erforschte neolithische Abfallgruben – „es ist erregend, wenn man eine Spinnwirtel im Abfall findet“, erinnert er sich – , auch jungsteinzeitliche Grabanlagen wurden erforscht. Zu Spurensuchen anderer Art bot seine Heimatstadt Halle selbst reichlich Gelegenheit: Ganze Partien dieses geschichtsträchtigen, von den Bomben des letzten Krieges nur wenig versehrten Ortes verfielen immer schneller. Zwar bröckelten aufgrund systematischer Vernachlässigung überall in der späten DDR Fassaden und wuchsen Birken aus Dächern nicht mehr bewohnter Gebäude, aber wohl in keiner Großstadt konzenrtrierte sich der Verfall so sehr wie in Halle, wo Häuser, die z. T. schon aus der frühen Neuzeit stammten, erst verkamen, dann verfielen und irgendwann weggebaggert wurden, wenn überhaupt – „Diva in Grau“ war ein Halle-Bildband der Nachwendezeit betitelt, und der hallesche Underground hatte es schon zehn Jahre zuvor zynischer und treffender formuliert: „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Welche überraschenden, verwirrenden Blicke und Perspektiven eine eingebrochene Dachlandschaft, ein auf- oder zusammengebrochenes Haus bietet – in den Vierteln um den halleschen Markt herum war es genauestens zu studieren. Und Matthias Rataizyk hat den morbiden Charme, die Farben, die Oberflächenstrukturen und die Tektonik des Verfalls in ihrem Kombinationsreichtum bestens studiert: die Raffinesse im Spiel mit Blickachsen, Vorder- und Hintergründen, Tonwerten und Licht- und Schattenwirkungen auf seinen Bildern zeigt es deutlich. Architektur, die dabei ist, in ihre Bestandteile zu zerfallen oder es schon ist, also ein ursprünglich als bewohnbares bauliches Ensemble Geschaffenes , das nun im Begriff ist, zu einzelnen Materialteilen zu werden – in Matthias Rataiczyks Bildern gewinnt es Dauer und spricht von vergangenem Leben zu uns.
Mit dem dann doch ziemlich sang- und klanglosen Zusammenbruch der DDR und dem Fall der Mauer eröffneten sich alle Wege aus dem vertrauten Halle und dem einst abgesperrten, sich nun auflösenden Staat DDR in die Welt, an Orte, die man zuvor eher durch mediale Vermittlung kannte, die aber in ihrer Realität eher etwas Unbekanntes, die eben „Fremde“ waren. Matthias Rataiczyk war und ist ein großer Reisender. Seien es nun die Mittelmeerländer – Türkei inklusive -, Mexiko, Peru, Thailand und China: Er destilliert seine Kunst aus zahlreichen Inspirationen verschiedenster Kulturen und Zeiten. Wahrhaftig nicht als rasender Reporter oder als Eindrückenden nachjagender Tourist. Seine Bilder reifen in einem sich oft längere Zeit hinziehenden Arbeitsprozess, in dessen Verlauf auch gestalterische Entscheidungen fallen, die vorher nicht kalkulierbar sind. Auf den zumeist großformatigen Gemälden finden außer Farben Sande Verwendung – das sorgt für eine haptische Struktur und eine ganz eigene Wirkung des einfallenden Lichtes -, Vliesstreifen werden hineincollagiert und wieder überstrichen. Auf handgeschöpften Papieren oder auch auf Papyrus – einem spröden, Alter und Vergänglichkeit gleichsam atmendem Material -, entstehen mit Blei- und Buntstiften und Gouachen subtile Zeichnungen. Vieles muss zusammenwirken, damit eines dieser faszinierenden Gebilde entstehen kann, auf denen die verflossene und verfließende Zeit wie stillgestellt erscheint.
Etwas altmodisch, vielleicht etwas pathetisch, könnte man sagen, dass diese Bilder zwischen Zeit und Ewigkeit angesiedelt sind. Wir Nachfahren der Aufklärung, die wir uns selber für aufgeklärt halten, vermögen ja nicht mehr so recht an Ewigkeit im religiös-metaphysischen Sinne zu glauben, zumindest nicht ungebrochen, wenn wir es denn überhaupt noch tun. Aber wir können auch nicht davon lassen. Geradezu thematisch fassbar wird dieser Zusammenhang auf den Bildern, die es direkt mit dem Tod zu tun haben. Matthias Rataiczyk dokumentiere „das unstillbare Verlangen der Menschen unterschiedlichster Kulturen nach dauerhafter körperlicher Präsenz“, haben Andreas Kühne und Christin Müller-Wenzel vor Jahren über seine entsprechenden Arbeiten geschrieben. In der Tat: Die berühmte chinesische Terrakotta-Armee, die bei X’ian ausgegraben worden ist, sollte die ewige Ruhe des 210 v. Chr. beigesetzten Kaisers Qin Shi Huang Di bewachen, der seinerzeit ebenso brutal wie effektiv die Zeit der „streitenden Reiche“ beendigte, indem er alle übrigen chineschen Staaten unterwarf und China zum ersten Male einigte. Matthias Rataiczyk sah 2004 die Ausgrabungsstätte und ließ sich zu einer Serie eindrucksvoller, großformatiger Arbeiten auf Papyrus inspirieren. 2005 besuchte er die Kapuzinergruft von Palermo, in der rund drei Jahrhunderte lang zunächst Mönche und später auch Angehörige der gehobenen Kreise bestattet und durch ein günstiges Mikroklima mumifiziert worden waren. Von da an datiert seine Auseinandersetzung mit dem Thema Mumien, die sich mit seinem Besuch in der ungarischen Stadt Vác fortsetzte, wo in der Krypta der dortigen Dominikanerkirche über 260 ehemalige Einwohner bestattet liegen, die ebenfalls auf natürlichem Wege mumifiziert wurden. 2008 hielt er sich vier Wochen in Peru auf, wo er im Museum von Leymebamba im Norden des Landes die Hockermumien der Chachapoya studierte, eines der rätselhaftesten indigenen Völker Lateinamerikas, über das man sehr wenig weiß. Die Chachapoya mumifizierten ihre Toten mit einer im Einzelnen unklaren Technik und bestatteten sie in hoch über dem Nebelregenwald gelegenen Mausoleen. Die spektakulärste „Totenstadt“, 2700 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, ist Mitte der 1990er Jahre in der Nähe von Leymebamba entdeckt worden. Welche religiösen Vorstellungen, welche Mythen für die Chachapoya den Tod umgaben, weshalb sie so viel Mühe aufwandten, um ihre Verstorbenen zu konservieren – wir werden es nie erfahren. Matthias Rataiczyk hat ihnen eine ausdrucksstarke Serie gewidmet. „In hockender, sitzender, kauernder Stellung scheinen die Toten angstvoll auf ihre Erlösung oder ein weiteres, anderes Leben zu warten“ (Andreas Kühne / Christin Müller-Wenzel). Die „peruanischen Träumer“ in der gegenwärtigen Ausstellung geben eine schwer vergessliche Vorstellung davon.
Die Mumienbilder – eine wichtige Werkgruppe im Schaffen des Künstlers – sind nicht aufs Spektakuläre oder Grausige aus. Sie zeigen etwas, das in unserer westlichen Kultur gern verdrängt, an die Ränder geschoben und Spezialisten überlassen wird: Sie konfrontieren uns mit dem Fakt des Todes, ohne ihn sensationsheischend zu vergröbern oder zu sentimentalisieren. „Memento mori“, „gedenke des Todes“ sagte man einst, und das gilt eben überall, ob man möchte oder nicht. Die Betrachter können – und sollen wohl – sich einfühlen in das vor Jahrhunderten erloschene Leben, dessen Hülle schon seit langem erstarrt ist, das aber doch einmal Fluss und Geschmeidigkeit hatte, das eben ein menschliches Leben war und uns kraft seiner Menschlichkeit zu berühren vermag – die fremden Welten indianischer Völker oder auch italienischer Klosterbrüder, sie sind irgendwie eben auch vertraut. Wir teilen ein existenzielles Moment mit ihnen. Der große österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal hat es vor über 100 Jahren so ausgedrückt:
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.
Viele Geschicke weben neben dem meinen.
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.
Das war die dichterische Diktion des Wiener Finde siècle. Matthias Rataiczyk meint wohl im Grunde dasselbe, wenn er mit der Nüchternheit unserer Tage formuliert: „Das Gefühl, in der Fremde zu sein, das Gefühl, dort etwas zu entdecken, was man zu Hause auch hat“. Diesem existentiellen Moment mit den souverän gehandhabten Mitteln seiner Kunst nachzuspüren, ohne Kompromisse und Beschönigungen, das macht die Würde und den Rang seiner Arbeiten aus.