Matthias Rataiczyk

Der Mikrokosmos wird zum Makrokosmos

Unter diesen Leitsatz möchte ich die Bilderzyklen Matthias Rataiczyks stellen. Denn ebenso wie in der Vorstellung einer vollendeten Ordnung der Welt das Ganze (Makrokosmos) seine Entsprechung in den Teilen hat (Mikrokosmos), so stehen die ausschnitthaft präsentierten und nicht selten vergrößerten Architekturstrukturen der Tempel in Kambodscha und Thailand gleichsam auch als für Kultur und Zivilisation dieser untergegangenen Hochkultur. Er selbst nennt dies „… im Detail suchen, worin sich Großes erkennen lässt.“
Den Asienbildern der vergangenen Jahre ist dieser Katalog von Matthias Rataiczyk gewidmet. Einerseits verfolgt er mit diesen Zyklen einen seit 1994 eingeschlagenen Weg weiter, modifiziert ihn aber durch die Verarbeitung der in mehrwöchigen Aufenthalten in Thailand und Kambodscha gewonnenen neuen Eindrücke.

Betrachtet man Rataiczyks Œuvre, so lässt sich seit den ausgehenden 1980er Jahren – offensichtlich angeregt durch den Flächenabriss ganzer Stadtteile und Straßenzüge seiner Heimat-stadt Halle – eine Verarbeitung zunächst von Abrissmaterialien hin zur Auseinandersetzung mit Gebäuden und Architektur-strukturen verfolgen. Am Anfang wurden Steine, Stuckteile und Treppen aus Abrisshäusern zu Collagen wie „Vorwärts – Rückwärts“ (1989) und „Der Weg – Der Steg“ (ebenfalls 1989 gemeinsam mit Christine Triebsch und Niels Holger Wien) zusammengefügt, die damals u.a. in der halleschen Galerie für „Junge Kunst“ am Alten Markt gezeigt wurden. Dieser eher spielerische Umgang mit der Zerstörung und den „Ruinen seiner Heimatstadt – Zeugen einer fortdauernden geistigen Verletzung und Verödung…“, wie Rataiczyk sich einmal selbst darüber äußerte, wurde dann durch die Beschäftigung mit der Papierfabrik in Halle und damit seinem ersten Zyklus vertieft. Er übersetzte diese Anregungen desolater und ruinöser Architekturstrukturen in sein damaliges künstlerisches Material und seine damalige Ausdrucksform, nämlich eingefärbtes Vlies auf Vlies genäht und teilweise übermalt. Rataiczyk zeigte sich hier noch ganz durch seine Herkunft aus der textilkünstlerischen Gestaltung geprägt. Zuschnittpläne dieser genähten Arbeiten ließen wenig Freiräume bei der Umsetzung der Entwürfe zu.

Seine eigene Bildsprache fand er dann seit 1994 im Gefolge zweier wichtiger Entdeckungen: Zum einen der Eröffnung neuer Bildwelten durch ausgiebige Reisen zunächst nach Italien, in die Türkei, nach Mexiko, später mehrfach in den Süden Marokkos und schließlich nach Thailand und Kambodscha, und zum zweiten der Entdeckung eines neuen Bildträgers, der Hartfaserplatte, die fortan die genähten, auf Keilrahmen aufgezogenen Arbeiten ersetzte.
Sein textiles Material behielt er jedoch bei; nur entwickelte er jetzt auf den Hartfasertafeln mit Kreide-Sand-Masse Relief-strukturen, auf die das dünne Vlies aufgebracht und mit Acryl-farbe übermalt und bearbeitet wurde. Die auf den Reisen in zahlreichen Zeichnungen, Abrieben, Fotografien und Filmen festgehaltenen Eindrücke können so im Atelier neu zusammengesetzt und in frei komponierte Arbeiten umgesetzt werden. Der eigentliche Schaffens- und Malprozess bleibt damit in seiner Mehrschichtigkeit erhalten.

Zahlreiche Zyklen sind seither entstanden wie „Skouras Schatten“, „Spuren“, „Sonnengesang“, „Villa Floria“, „Maya“, „Vallée du Dráa“, „ZeitFluss“ oder wie die jüngsten hier vorgestellten „Wände von Lopburi“, „Pak-Sa“, „Durchblick“, „Jungle“, „Naga“ und „Thailand“. Abgesehen vom Zyklus „Jungle“, in dem die urwüchsige tropische Flora zum Gegen-stand der extrem hochformatigen Bilder gemacht wurde, blieb Matthias Rataiczyk den architektonischen Strukturen, deren Freilegung und Herausarbeitung prägnanter Details treu.

Aber wer die Tempel Angkors kennt und ihre eindrucksvolle Überwucherung durch den Kapokbaum und die Würgefeige, deren Wurzeln sich in die Fugen, Dächer, Nischen, Kapitelle und Friese hineingefressen und schließlich die Bauten bis zum Erd-reich bewachsen haben, erahnt auch hier verborgene architektonische Motive als Spuren menschlicher Zivilisation.
Der Mensch oder besser seine Behausungen, Arbeits- und Kult-stätten – etwa Hallesche Abrisshäuser, die dortige Papierfabrik, Kasbahs in Marokko, Tempel der Maya in Palenque und Yucatan oder die Khmer Architektur in Thailand und Kambodscha sind Gegenstand dieser gelenkten Sicht auf eigene, fremde, vergangene und noch existierende Lebenswelten. Die stilllebenhaft anmutenden Bilder verzichten auf die Anwesenheit menschlicher Figuren. Dennoch künden Rataiczyks menschenleere Treppen, Durchblicke und Architekturen nicht von Leere, Trauer und untergegangenen Kulturen oder längst verstorbenen Bewohnern, sondern verweisen teilweise biografisch nüchtern (Halle), kühl und spröde (Marokko) oder weich und heiter (Asien) auf die Spuren ihres Tuns.
Man fühlt sich dabei unwillkürlich an eine nahezu zweihundert Jahre zurückliegende Äußerung Karl Friedrich Schinkels über sein Architekturlandschaftsbild „Blick in Griechenlands Blüte“ erinnert, zu dem er erläuternd ausführte: „Landschaftliche Ansichten gewähren ein besonderes Interesse, wenn man Spuren menschlichen Daseins darinnen wahrnimmt. Der Überblick eines Landes, in welchem noch kein menschliches Wesen Fuß gefasst hat, kann Großartiges und Schönes haben, der Beschauer wird aber unbestimmt, unruhig und traurig, weil der Mensch das am liebsten erfahren will, wie sich seinesgleichen der Natur… bemächtigt, darinnen gelebt und ihre Schönheit genossen haben… (Deshalb diene die Aufgabe des Bildes dazu), mit diesem Volke leben und dasselbe in allen seinen menschlichen und politischen Verhältnissen verfolgen (zu können)“. Wechselnde perspektivische Brechungen in den Arbeiten Rataiczyks, extreme Untersichten und endlose Fluchten lenken die Blickführung und tragen ebenso wie der Einsatz von Licht und Schatten zur Charakterisierung und stimmungsvollen Schil-derung der Länder bei. So wählte er zunächst in den Halle-Bildern dunkle Grau-, Braun-, Blau- und Gelbtöne.
Die Maya-Tempel und vor allem die Lehmarchitektur Marokkos ließen seine Palette in hellen Grau-Ockertönen erstrahlen, während die einst bunt bemalten steinernen Khmer-Tempel Asiens neben Grau architektonische Hervorhebungen in Grün, Gelb, Orange und Blau aufweisen. Gegenüber der gleißenden Sonne der Wüstenlandschaft Marokkos spiegeln sich die Urwaldlandschaften Thailands und Kambodschas in einer Abdunklung der Palette wider. Erneut treten in den endlosen Raumfiladen der Tempel Angkors – wie den „Durchblicken“ oder „Durch die Khmer-Tore“ – sowie den thailändischen „Einblicken“ frühere hallesche Motive zu Tage.

Matthias Rataiczyk wählte jedoch keine Stadt- oder Architek-turansichten im eigentlichen Sinne, wie wir sie aus genauen porträthaften Gesamtansichten in Form von Stichwerken oder Veduten kennen, zum Ausgangspunkt seiner Kompositionen. Auch nicht auf die Verdeutlichung der politisch-religiösen Funktionen der Stadt, der Gebäude und ihrer Gemeinschaft zielen seine Bilder. Statt dessen werden charakteristische Architekturdetails – wie Kapitelle, Friese, Reliefs oder die Ober-flächenbearbeitung der Wände, der Steine oder des Lehms – in einer Art Großaufnahme gleichsam als Sinnbild oder Mikrostruktur für die gesamte Kultur, das Land, die Architektur und die Lebensweise der Menschen dargestellt.

Der Mikrokosmos wird zum Makrokosmos.