30. August 2017
Am Anfang war das Spiel mit dem Material
So könnte der berufliche Weg vieler Künstler begonnen haben. Auch für Matthias Rataiczyk war die Lust am freien Umgang mit verschiedenen Materialien ausschlaggebend, ein Studium an der halleschen Kunstschule Burg Giebichenstein aufzunehmen, welches sich dann neben dem Erlernen traditioneller Techniken der Tafelmalerei und Textilgestaltung durch eine große Offenheit für Experimente ausgezeichnet hat. Nach einer vielseitigen Ausbildung konzentrierte er sich jedoch schon bald auf die Malerei. Gleichzeitig erweiterte er seinen Gestaltungsspielraum durch das Einbeziehen neuer Materialien und schuf so in den neunziger Jahren eine beachtliche Reihe von Collagen und Mischtechniken.
In seinen jüngsten Arbeiten verwendet er Vlies, Kreide, Gips, Sand oder Erde für die Modellierung eines reliefartigen Malgrundes, der bereits die Fläche negiert. Diese ersten, noch zaghaften Raumerfahrungen werden durch ein differenziertes Liniengefüge strukturiert. Das lineare Grundgerüst wird durch den folgenden Farbauftrag teilweise überlagert und damit wieder zerstört. Schicht für Schicht vernetzen sich Linien und Farben zu einer komplizierten Bildstruktur, deren Einzelheiten und Tiefendimensionen sich nicht gleich offenbaren. Optische Irritationen in der Wahrnehmung des Bildes sind hierbei bewußt einkalkuliert. Je nach Standpunkt des Betrachters können die einzelnen Bildele-mente vor- und zurückspringen. Ein Wechsel von Flächen- und Tiefenwirkung wird dadurch suggeriert. Diese subtile Malerei droht, ähnlich einem fragilen Gewebe, auseinanderzufallen, wäre da nicht eine gedämpfte, teilweise transparente Farbigkeit, die den scharfen Zeichnungen und kantigen Formen eher entgegenwirkt. Die zurückhaltende Farbgebung belebt neue Raumperspektiven, in denen sich Licht und Schatten sowie eine höhere Bildordnung entfalten können.
Assoziationen zu architektonischen Elementen treten nun verstärkt ins Erscheinungsbild. Schon werden Wände, Pfosten, Türen, Fenster, die Nah- und Fern-, Ein- und Durchblick gestatten oder verhindern, erkennbar. In der Tat dient die Architektur dem Maler als wesentliche Inspirationsquelle und wird sogar zum hauptsächlichen Bildgegenstand erhoben. Konkrete Anregungen erfährt er vor allem in seiner Heimatstadt Halle, aber auch auf seinen Reisen in entfernte Länder. Auf der Suche nach den Geheimnissen fremder Lebensformen und Zeiten faszinieren ihn immer wieder architektonische Fragmente. Sie berichten von der einstigen Blüte hoher Kulturen und deren unvermeidlichem Untergang. Jedoch sind es nicht allein die Glanzlichter der Geschichte, für die sich Matthias Rataiczyk interessiert. Ob kostbare Maja-Reliefs oder unscheinbare, verfallene Häuser – die vielgestaltigen Artefakte der Menschheitsgeschichte dokumentiert er vor Ort in Zeichnungen, Fotos und Frottagen, die er als Studienmaterial im halleschen Atelier weiter verarbeitet. Die sinnlichen und geistigen Dimensionen der wundersamen Spurensuche lassen sich in seinen frei gestalteten Bildern erahnen, obgleich das ursprünglich Wahrgenommene schon längst in der Erinnerung an Gegenständ-lichem verloren hat. Denn fern liegt ihm eine Schilderung lokaler Eigenarten, wie zum Beispiel der Stadt Halle, deren Jahrzehnte anhaltender Verfall im innerstädtischen Bereich unvermeidlich auch seine Sehgewohnheiten geprägt hat. So entwirft er weder bedrückende Szenarien, noch malt er inhaltslos gewordene Architekturensembles. In seinen abstrakten „Stadtlandschaften“ schwingt auch keine Wehmut über vergangene Zeiten mit. Vielmehr ist es die allgemeine Wertschätzung der Relikte menschlicher Gestaltungskraft, die selbst noch in morbider Form zu neuen ästhetischen Schöpfungen animieren. Insofern stehen seine Bildvisionen, auch wenn in ihnen jegliche figürliche Darstellung fehlt, in gedanklicher Analogie zum menschlichen Leben, zum Werden und Vergehen. Diese metaphorische Sicht verweist ebenfalls auf die Vergänglichkeit der eigenen Person und hinterfragt die individuellen Fähigkeiten, die Matthias Rataiczyk mit den Mitteln der Malerei ausprobiert.
Obgleich er in Zyklen arbeitet, stehen die Bildfolgen lediglich in einem losen thematischen Zusam-menhang. Es gibt keine zwingende Abfolge der Betrachtung. Jedes Bild bleibt als einzelnes Kunstwerk mit seiner autonomen Bildstruktur relevant, und nur so vergegenwärtigt es das Fragmentarische und Überzeichnete der geschichtlichen Überlieferung. Ähnlich einer historischen Rekonstruktion beginnt auch Matthias Rataiczyk mit der Arbeit im Kleinen, am Detail, das überschaubar ist und bereits auf das Große und Ganze verweist. Folglich fokussiert er seinen Blick auf einen Ausschnitt, dessen Dimensionen sich erst in der Tiefe offenbaren. Die Überschneidungen und Überlagerungen der verschiedenen Bild- und Sinnschichten brechen hier die gewohnte Perspektive auf und provozieren stete Blickwechsel, die zu einer facettenartigen Betrachtung führen. Dies widerspiegelt sich in Rataiczyks Arbeitsweise, die vom Detail über eine kontrapunktische Strukturierung der Fläche zu einem Gesamtbild führt.
Auch wenn spätestens an dieser Stelle ein Hinweis auf die Formenvielfalt der Kubisten naheliegt, gestatten seine Arbeiten nur vage einen Vergleich. Denn auf der Suche nach ungewöhnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten der Architektur ist er schon längst zu einer eigenen Zeichensprache gelangt, die in allgemeine und abstrakte Bereiche vordringt.
Durch Reiseimpressionen aus südlichen Ländern ist seine Ausdrucksweise seit Mitte der neunziger Jahre noch reicher geworden. Neben den kraftvollen, dynamischen Bildern entstehen nun kontemplative Gestaltungen mit eher weichen, plastischen Formen und einer helleren Farbgebung. Die ursprünglichen Sinneseindrücke erscheinen hier nicht mehr in einzelne Facetten aufgelöst, sondern fügen sich zu einem harmonischen Ganzen aus abstrakten Zeichen zusammen. Doch über der geschlossenen Struktur liegt gelegentlich eine monochrome Fläche, dem Himmel gleich, der über das Sichtbare hinausweist und Freiräume für neue Interpretationen offen läßt. Reale Bezüge sind in diesen Bereichen kaum noch faßbar, stoffliche Reize und erprobte Ordnungsprinzipien verlieren an Bedeutung. Was indes bleibt, ist die Lust auf neue Erfahrungen im kreativen Umgang mit verschiedenartigen Materialien.